In: Hauer, Ernest/Reithmayr, Franz (Hg.): Raus aus der Sackgasse. Ein Lesebuch zur Wende im Osten. Wien 1990: 297-299
Es war die längste Debatte im Prager Parlament, an die sich die 350 Abgeordneten erinner konnten. Zwölf Stunden schon stritten sie über einen einzigen Tagesordnungspunkt, und das Objekt der hitzigen Wortgefechte hätte kleiner nicht sein können: Man rang um einen Bindestrich. Doch der winzige Strich verband nicht, er entzweite.
Sollte die neue, die demokratische Tschechoslowakei nun „Tschecho-Slowakische Föderative Republik“ heißen oder „Tschechoslowakische Föderative Republik“?
Vor dem klotzig-hässlichen Parlamentsgebäude neben dem Nationalmuseum beschimpften einander Dutzende Anhänger beider Varianten, wenige hundert Meter entfernt, unter dem Denkmal des Heiligen Wenzel, wurden Unterschriften für und wider den Bindestrich gesammelt. Im Hohen Haus selbst erhitzten sich die Gemüter schließlich derart, daß gar der Staatspräsident im Krankenwagen anfahren mußte. Wegen einer Leistenoperation lag Václav Havel im Spital, aber schließlich ließ er sich doch ins Parlament bringen, um die Abgeordneten entnervt zu mahnen: „Machen Sie sich bitte nicht lächerlich!“
Ein Schlichtungsausschuß musste letztlich noch stundenlang verhandeln, bis man sich spätabends mit knapper Mehrheit einigen konnte: Auf beide Varianten.
Fortan sollte der Staat in tschechischer Sprache „Tschechoslowakische Föderative Republik“ und auf slowakisch „Tschecho-Slowakische Föderative Republik“ heißen. „Der Krieg der Worte ist vorbei“, notierte erleichtert der Reuters-Korrespondent aus Prag. Zwanzig Tage lang behielt er recht.
Aber am 18. April 1990 traten die beiden Parlamentskammern neuerlich zusammen und beschlossen wieder eine Namensänderung. Die eben erst erstrittene Variante war zu kompliziert, der Präsident und die Abgesandten aus Prag und Bratislava hatten sich auf eine neue Version geeinigt: „Tschechische und Slowakische Föderative Republik“ heißt das Land seitdem und die Briefköpfe mußten noch einmal geändert werden.
Doch der nach außen hin lächerlich erscheinende Streit um einen Bindestrich bewies nicht „die tschechoslowakische Liebe zum Detail und zur Absurdität“, wie ein US-Journalist amüsiert kommentierte, der Konflikt ging viel tiefer — zurück in eine tausendjährige Gesdichte. Denn auch nach mehr als sieben Jahrzehnten im 1918 gegründeten gemeinsamen Staat gibt es weder Tschechoslowaken noch eine tschechoslowakische Sprache.
Im Land leben zehn Millionen Tschechen, fünf Millionen Slowaken sowie 600.000 Ungarn, etwa ebensoviele Roma und etliche andere kleinere Minderheiten. Eine „tschechoslowakische Nation“, wie sie Staatsgründer Tomáš G. Masaryk und sein Mitstreiter Edvard Beneš aufbauen wollten, existiert heute weniger denn je. 72 Jahre nach der Staatsgründung wehrten sich die Slowaken sogar gegen die Wiedereinführung des einstigen Namens „Tschechoslowakische Republik“. Viele Slowaken fühlen sich diskriminiert, vereinnahmt vom Mehrheitsvolk der Tschechen, die zwar eine ähnliche Sprache haben, aber mit denen sie bis 1918 nie unter einer gemeinsamen Verwaltung gelebt hatten.
Die tausend Jahre lange Fremdherrschaft Ungarns über die Slowakei trägt da ebenso zur Empfindsamkeit bei wie ein oft beschriebener Minderwertigkeitskomplex des katholischen Bauernvolkes gegenüber den aufgeklärten reformatorischen Tschechen mit ihrer Jahrhunderte alten kulturellen Tradition, während eine slowakische Literatur erst im 19. Jahrhundert entstand. Zwar stimmten die slowakischen Exilorganisationen noch während des 1. Weltkriegs dem Plan Masaryks zur Errichtung einer damals noch „Tschecho-Slowakischen Republik“ zu, aber schon bald nach 1918 verschwand erst der Bindestrich aus dem Staatsnamen und dann das Vertrauen der Slowaken in die Gleichberechtigung im neuen Staat.
Aber auch die Tschechen fanden alsbald Grund zur Skepsis. Denn während Adolf Hitler erst die „sudetendeutschen Gebiete“ der Tschechoslowakei „heim ins Reich“ holte und kurz darauf die „Rest-Tschechei“ besetzte, proklamierte in Bratislava der katholische Priester Jozef Tiso den unabhängigen Staat Slowakei. Einen Vasallenstaat von Hitlers Gnaden, der in den folgenden Jahren unter dem klerikal-autoritären Regime Tisos eng mit Nazi-Deutschland kooperierte.
Unter der kommunistischen Herrschaft über die wiedervereinigte Tschechoslowakei wurden ab 1948 die nationalistischen Töne vorerst abgedreht — Internationalismus war angesagt. In der Slowakei wurden Milliarden investiert, im Zeichen stalinistischer Tonnenideologie und unter dem Diktat der sowjetischen Wirtschaftsinteressen verwandelte sich das Agrarland in ein Schwerindustriegebiet.
Erst im offenen Klima des Prager Frühlings 1968 mit der wiedergewonnenen Meinungs- und Pressefreiheit wurden die Stimmen der unzufriedenen Slowaken wieder lauter. Sie forderten eine eigenständige politische Vertretung im Land, die Umwandlung des Zentralstaates mit seiner tschechisch dominierten Verwaltung in eine Föderation. Besonders stark machte sich dabei ein Slowake, der wenig später zu trauriger Berühmtheit gelangen sollte: Gustav Husak, der als späterer KPČ-Chef und Staatspräsident die letzten Reste des „menschlichen Sozialismus“ Alexander Dubčeks „normalisieren“ ließ.
Die neue Staatsverfassung vom 1. Jänner 1969 war schließlich die einzige Errungenschaft des Prager Frühlings, die den kommenden 22jährigen Winter überdauern sollte: Die Republik wurde zur Förderation umgestaltet, die Slowakei und die tschechischen Länder Böhmen und Mähren bildeten zwei gleichberechtigte Teilrepubliken. Obwohl sie nur ein Drittel der Einwohner stellen, bekamen die Slowaken in der zweiten Kammer des neugestalteten Bundesparlaments Gleichberechtigung zugestanden, gegen die Zustimmung der slowakischen Abgeordneten ging nichts mehr. Konkrete Auswirkungen hatte dies freilich nicht, die Politik wurde ohnehin nicht im Parlament, sondern im Zentralkomitee der KPČ gemacht.
Aber manchen Tschechen begann das kleine Brudervolk langsam doch allzu groß zu werden. Da passte ganz gut, dass man den so stolzen Slowaken ihre Landsleute Husak und Bilak vorhalten konnte, die zu den verhasstesten „Normalisierern“ gehörten. Auf den Hinweis, daß doch auch Alexander Dubček ein Slowake sei, folgte umgehend der Verweis auf den überproportional hohen Anteil der Slowaken in den Führungsgremien der Husak-KPČ.
Als dann im Herbst 1989 der kommunistisch-internationalistische Deckel hochging, begann der bis dahin unterdrückte Nationalismus erst recht zu brodeln. „Die Slowakei den Slowaken“, forderte die neugegründete Slowakische Nationalpartei SNS auf ihren Wahlkundgebungen. Auch die christlich-demokratische Bewegung der Slowakei setzte unverhüllt auf nationalistische Argumtente und verlangte eine Neubewertung des faschistischen Tiso-Staates.
Die SNS, deren Vertreter offen die neuerliche Gründung eines unabhängigen Staates propagierten, bekamen bei den ersten freien Wahlen im Juni 1990 immerhin jede sechste slowakische Stimme, die Popularität der Rechtsnationalen schockierte Politiker und Kommentatoren in Prag. Seitdem wurde jedenfalls niemand mehr müde zu betonen, dass die Rechte der Republiken in der Föderation gestärkt werden sollen. Die beiden Landesteile würden eigene Verfassungen bekommen, versprach Staatspräsident Havel unmittelbar nach der Wahl und Premierminister Marian Čalfa setzte in seiner Regierungserklärung nach: „Mehr Rechte für die Republiken und die Regionen“.
Dass ausgerechnet der prominente Ex-Kommunist Čalfa der Chef der ersten demokratisch gewählten Regierung wurde, hat übrigens auch mit dem komplizierten Verhältnis der beiden Völker zu tun. Denn zum tschechischen Staatspräsidenten Havel passte nur ein slowakischer Premierminister — außer Calfa blieb da nicht viel Auswahl. Dass mit Alexander Dubček aber auch noch ein Slowake Parlamentspräsident wurde, erscheint manchem Tschechen wiederum ein wenig übertrieben.
Dem endlich hoffähigen nationalen Selbstbewußtsein fielen allerdings noch ganz andere Bastionen zum Opfer. Seit Juni 1990 heißt die einstmals internationalistische KPČ offiziell KPČS: „Kommunistische Partei der Tschecho-Slowakei“.
Doch noch ein Triumph für die Bindestrich-Fraktion.