So viel Widerspruch

Hatte endlich Zeit „Die vierte Gewalt“ von Precht und Welzer zu lesen – und wollte ein paar Tweets dazu schreiben. Es sind  insgesamt 14 geworden, das schien mir für einen Thread dann doch zu lang. Ich will ja niemanden nerven, den das Thema nicht so interessiert. Also habe ich meine Tweets hier zusammenkopiert:


In dem Buch finden sich etliche bedenkenswerte Beobachtungen und Diagnosen und es ist sehr gut und flüssig geschrieben.
Aber: Die Kernthese von den sich „selbstangleichenden“ Leitmedien ist schlicht unsinnig und die Argumentation voller Widersprüche. (1)

Wirklich niemand kann ernsthaft meinen, dass FAZ, SZ, taz, BILD, ZEIT, WELT o. NZZ eine Art „Einheitsmeinung“ (gegen einen Großteil ihres Publikums) vertreten würden, weil ihre Journalist·innen sich gegenseitig gefallen wollen. (2)

Der angebliche „neue publizistische Imperativ: Schreibe stets so, dass deine Meinung die Meinung der anderen Journalisten sein könnte“ ist empirischer Unfug – wie alle wissen, die mehrere Medien nützen. (3)

Ein anderer zentraler Vorwurf ist eine „Repräsentationslücke“ zw. den Meinungen von Medien und Bevölkerung. Gleichzeitig würden sich die Medien aber zu sehr an die Bevölkerung „ranschmeißen“, um max. Reichweiten zu produzieren. (4)

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Fluten wir die Wutmaschinen mit Journalismus!

Ich finde ja, dass Social Media den öffentlichen Diskurs ziemlich versaut haben. Trotzdem bin ich überzeugt davon, dass es auf Social Media seriösen Journalismus geben muss und dass professionelle Medien dort aktiv sein sollen.
Dieser Text wurde zuerst im PROFIL 39/22 veröffentlicht:


Mitte September tauchte auf WhatsApp ein Video auf, das sich rasant verbreitete. Es zeigt eine scheinbar endlose Schlange von Flüchtlingen entlang einer burgenländischen Landstraße nahe der Grenze zu Ungarn. „Das siehst du nicht im ORF“, raunt eine Stimme aus dem Off: „Auch die Polizei verhindert solche Aufnahmen. Wir werden verarscht, aber so richtig!“ Am 13. September stellte die FPÖ diese Bilder auf ihren YouTube-Kanal und schrieb dazu: „Burgenland im Jahr 2022. … Es ist der pure Wahnsinn. … Unsere Grenzen [werden] regelrecht überrannt. … Solche Bilder bekommt man in den Mainstream-Medien allerdings nicht zu sehen.“

Stimmt. In seriösen Medien waren diese Bilder letzthin nicht zu sehen. Das Video ist nämlich sieben Jahre alt, vom Höhepunkt der Flüchtlingskrise im September 2015, wie das Faktencheck-Team des PROFIL sehr schnell herausgefunden hat. Da hatten das Fake-Video allerdings schon Zehntausende auf Social Media gesehen und sehr entrüstet geteilt.

Mehr als sechs Millionen Menschen in Österreich nützen Social Media, die unter 30-Jährigen nahezu alle. Von den 18–24-Jährigen lesen hierzulande gerade noch 14 Prozent gedruckte Zeitungen, doppelt so viele klicken zumindest die Websites von Zeitungen an, und knapp 40 Prozent konsumieren Nachrichten auch in Radio und Fernsehen, wie wir aus dem Reuters Digital News Report 2022 wissen, der umfassendsten Bestandsaufnahme zur Mediennutzung im Land.

SOCIAL MEDIA ALS NACHRICHTENQUELLE

Aber 63 Prozent der Jungen geben als Nachrichtenquelle soziale Medien an, von WhatsApp über YouTube bis Instagram, immer weniger nennen dabei Facebook, immer mehr dafür TikTok. Doch selbst von den über 55-Jährigen, den treuesten Zeitungslesern und ZIB-Seherinnen, bekommen 41 Prozent auch Nachrichten via Social Media.

Der legendäre Ex-ORF-Chef Gerd Bacher hat Journalismus einmal als Unterscheidung definiert: zwischen wahr und unwahr, wichtig und unwichtig und zwischen Sinn und Unsinn. Diese Unterscheidung ist heute, im Social-Media-Tsunami aus Fake News, Propaganda, Entertainment, Influencern, Krawall, Verschwörungen, Hetze und Wahnsinn, noch sehr viel wichtiger geworden als damals, in der gemütlichen Bacher-Ära von FS1 und FS2.

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