ZiB2-Schaltgespräch: Anton Pelinka-Armin Wolf

Anton Pelinka 1941-2025

Wenige Menschen haben mich in meinem Berufsleben so sehr beeinflusst wie Anton Pelinka. Er war der Grund dafür, dass ich doch nicht Lehrer wurde, sondern Politikwissenschaft inskribierte. In seinen Lehrveranstaltungen habe ich erstmals verstanden, was Politik ist, wie sie funktioniert und wie man sie analysiert.

Als Reporter und später als Moderator habe ich Pelinka unzählige Male im Radio und im Fernsehen interviewt. Bis zuletzt faszinierte mich seine Fähigkeit, komplexe Fragen für jede·n verständlich und immer interessant zu beantworten, ohne dabei zu simplifizieren. Seine eigene Vergangenheit als – hoch talentierter – Journalist war dafür sicher kein Nachteil. Die Idee, Wissenschaft nur für andere Wissenschafter·innen zu betreiben, war ihm nicht nur fremd, sondern erschien ihm völlig absurd.

Jahrzehntelang war Anton Pelinka vermutlich der erste Name, der den allermeisten Menschen in Österreich eingefallen wäre, hätte man sie nach einem Politologen gefragt. Er hat die Disziplin – und über viele Jahre auch die öffentliche Debatte über die Politik im Land – geprägt wie niemand sonst.

Anlässlich seines Todes hat mich DIE ZEIT eingeladen, einen Nachruf auf Pelinka zu schreiben. Mit Erlaubnis der Redaktion veröffentliche ich ihn auch hier.


Es muss im März 1985 gewesen sein, als ich den Hörsaal an der Innsbrucker Uni betrat. Am „Tag der offenen Tür“ präsentierten sich die Studienrichtungen den angehenden Maturanten und Maturantinnen. Den Professor, den ich mir anhören wollte, kannte ich aus dem Fernsehen.

In meinem Elternhaus – der Vater Hausmeister, die Mutter Kassiererin im Supermarkt, beide Mitglieder der kleinen ÖVP-Ortsgruppe Innsbruck Olympisches Dorf – galt er als einer der zwei klügsten Menschen in Österreich, auch wenn beide politisch verdächtig waren.

Professor Anton Pelinka und DDr. Günther Nenningmoderierten damals regelmäßig den „Club 2“, eine TV-Gesprächsrunde, die man sich in ihrer Unberechenbarkeit heute kaum mehr vorstellen kann.

Der linke „Doktordoktor“ mit den buschigen Augenbrauen und dem schelmischen „gell?“ am Ende jedes zweiten Satzes war eine Art intellektueller Hallodri. Der eloquente Professor war nüchterner, vermutlich auch kein ÖVPler, aber beeindruckend gescheit, immer ruhig und souverän. Vor allem konnte er fantastisch erklären. Was er sagte, klang stets besonders klug und trotzdem war es immer verständlich.

Anton Pelinka war in den 1980er und 90er Jahren DER Politologe im Land. Er hat die Politikwissenschaft nicht in Österreich eingeführt, aber praktisch im Alleingang populär gemacht. Er war so bekannt wie heute Peter Filzmaier, nur dass neben Filzmaier auch andere Politologinnen und Politologen regelmäßig in Medien erscheinen. Anton Pelinka war ein Solitär.

ERKLÄRER

Jahrzehntelang war er Österreichs führender Public Intellectual, der den Österreichern ihr Land und seine Politik erklärte. Nicht nur in Radio, Fernsehen und Zeitungsinterviews oder im Hörsaal, auch in Diskussionsrunden in Wirtshäusern und Mehrzweckhallen, zu denen er nach langen Uni-Tagen mit der Bahn nach Landeck oder Liezen fuhr – meist ohne Honorar.

Diesen berühmten Mann wollte ich am Tag der offenen Tür der Uni Innsbruck also in echt sehen. „Grundzüge der Politikwissenschaft“ hieß seine Vorlesung. Das 134-seitige Skriptum aus dem Matrixdrucker mit grünem Deckblatt besitze ich bis heute.

Die Lehrveranstaltung war so interessant und der Vortragende so beeindruckend, dass diese 90 Minuten mein Leben veränderten. Noch im Hörsaal entschied ich mich, im Herbst nicht Wirtschaftspädagogik zu inskribieren, wie ich es seit Jahren vorhatte, sondern Politikwissenschaft. Und danach würde ich nicht Buchhaltung an einer Handelsakademie unterrichten – sondern Anton Pelinkas Nachfolger werden.

Das sollte sich gut ausgehen: Pelinka war Mitte vierzig. Ich würde den Magister machen und bei ihm promovieren. Als sein Assistent würde ich mich habilitieren und irgendwann seinen Lehrstuhl übernehmen – und den „Club 2“, die Interviews und das Renommee. Ich hatte einen Plan.

LEHRER

Im Herbst 1985 begann mein Studium am „Pelinka-Institut“. Das hieß so, weil es Pelinka zehn Jahre zuvor gegründet hatte. Mit 33 Jahren wurde er nach seiner Habilitation in Salzburg und nach zwei Jahren in Essen und Berlin auf den ersten Lehrstuhl für Politikwissenschaft der Uni Innsbruck berufen.

Aber es sollte noch zehn Jahre dauern, bis Politik in Innsbruck eine vollwertige Studienrichtung war und nicht nur ein Nebenfach. Wir waren der erste reguläre Jahrgang: etwa 70 Studierende, jeder kannte jeden am Institut und alle bewunderten den Professor.

Als Uni-Lehrer war er brillant: Die Vorlesungen klar strukturiert, jeder Satz druckreif und die letzte Viertelstunde für eine offene Diskussion über aktuelle Politik reserviert. Man hätte dafür auch Eintritt bezahlt.

Pelinka selbst war promovierter Jurist. Politikwissenschaft hatte er erst danach am Wiener Institut für Höhere Studien gelernt. Der berühmte Sozialforscher Paul Lazarsfeld hatte dort einen eigenen Lehrgang initiiert, um die in den USA längst etablierte Disziplin nach Österreich zu bringen. Pelinka gehörte zu den ersten Absolventen.

QUIZ-KÖNIG

Aufgewachsen war er als Sohn einer katholisch-konservativen Familie mit tschechischen und deutschen Wurzeln in Wien. Sein erstes politisches Engagement als „Helfer der Volkspartei“ beschrieb er in seiner Autobiografie „Nach der Windstille“ (2009) so: „Plakate der anderen Parteien wurden beschmiert, beschriftet, mit Symbolen der Volkspartei versehen.“ Das war im Nationalratswahlkampf 1949, Wahlhelfer Toni war acht.

Toni besuchte katholische Schulen und war Ministrant. Als Student wurde er für einige Wochen im ganzen Land bekannt: Mehrmals hintereinander gewann er als Kandidat das „Quiz 21“, eine extrem populäre Fernsehshow. Da Live-Sendungen damals nicht aufgezeichnet wurden, existiert von der Siegesserie leider keine Sekunde im ORF-Archiv.

1966 wurde der frisch graduierte Politologe Journalist. In der katholischen Wochenzeitung „Die Furche“ übernahm der 25-Jährige den Schreibtisch des Historikers Friedrich Heer. Doch der liberale „linkskatholische“ Kurs von Chefredakteur Kurt Skalnik prallte rasch auf den Widerstand der katholischen Nomenklatura. Skalnik wurde gefeuert, Pelinka kündigte.

ANTIFASCHIST

Zuvor hatte er in einem Kommentar die Verhaftung des rechtsextremen Aktivisten Norbert Burger gefordert. Burger ließ die „Furche“ beschlagnahmen und klagte Pelinka. Ohne Erfolg. Schon damals zeigte sich das wichtigste Motiv im politischen Weltbild des Politologen: die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus, Antisemitismus und den Feinden der Demokratie. „Die zentrale Erfahrung in meiner politischen Bewusstwerdung war das Begreifen des Holocaust“, schrieb er später. Von seiner katholisch-konservativen Herkunft hatte er sich als Mittelschüler emanzipiert und war an der Uni zum „parteilosen Linken“ geworden.

Mit Kreiskys Reformen sympathisierte er und engagierte sich, ohne je Parteimitglied zu werden, in SPÖ-Arbeitskreisen – bis zur Wiesenthal-Affäre, in der er den Kanzler scharf kritisierte. Die Weigerung, 1979 einen Wahlaufruf von Professoren für die SPÖ zu unterschreiben, und die folgenden Repressionen im Uni-Betrieb führten zum Bruch mit der Partei.

Nach der Kündigung bei der „Furche“ hatte Pelinka Angebote des ORF und der SPÖ- „Arbeiterzeitung“ abgelehnt und war vom Journalismus zurück in die Wissenschaft gewechselt. Nebenbei schrieb er noch für ein aufsässiges Monatsblatt des Kirchen-Rebellen Adolf Holl und für Günther Nennings„Neues Forum“.

Als Politologe wurde sein zentrales Thema neben dem politischen System Österreichs, über das er zahllose Bücher und Aufsätze verfasste, die Theorie der Demokratie. 1974 erschien sein Schlüsselwerk „Dynamische Demokratie“, mehr als 30 weitere Bücher folgten.

CITOYEN

Pelinkas Produktivität und Disziplin als Autor waren in Uni-Kreisen legendär. Trotz der Menge an Texten versäumte er keine Abgabefrist. Rätselhaft bleibt, wie der Politik-Analytiker noch Zeit fand, praktisch Politik zu machen, als Institutsvorstand, in Gremiensitzungen, als Dekan – und in zivilgesellschaftlichen Initiativen.

Er gehörte zu den Gründern der Gesellschaft für Politikwissenschaft, der Gesellschaft für Politische Aufklärung, des Instituts für Konfliktforschung, des Peter-Ustinov-Instituts für Vorurteilsforschung und des Wiesenthal-Instituts für Holocaust-Studien. Er vertrat Österreich in der EU-Kommission gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit und engagierte sich im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands ebenso wie als Präsident der Tiroler Aids-Hilfe. Sein ganzes berufliches Leben lang war Anton Pelinka Aufklärer, Volksbildner und Citoyen.

Die Politikwissenschaft hatte für ihn „auch den Charakter einer Oppositionswissenschaft. Sie darf den Mächtigen nicht angenehm sein.“ Ihre wichtigste Aufgabe sei es jedoch, Politik zu beobachten, zu beschreiben und zu analysieren.

AUFKLÄRER

Regelmäßig tat er das in Interviews für in- und ausländische Medien, oft mehrmals die Woche. Zwei dieser Gespräche führten rund um die Nationalratswahl 1999 in eine persönliche Krise. In der RAI und auf CNN hatte der Politologe dem freiheitlichen Parteichef Jörg Haider eine Nähe zum Nationalsozialismus attestiert. Haider klagte, Pelinka wurde verurteilt. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit, aber auch der zeitliche und finanzielle Aufwand frustrierten ihn tief.

Ein Lichtblick war ein offener Brief an den Bundespräsidenten, unterzeichnet von mehr als 150 Uni-Professoren aus aller Welt, die sich mit Pelinka solidarisierten. Die internationale Unterstützung dokumentierte das Prestige, das er sich auch als Gastprofessor in den USA (New Orleans, Harvard, Stanford, Ann Arbor), in New Delhi, Brüssel und Jerusalem erworben hatte.

2001 wurde er in letzter Instanz freigesprochen, doch im ORF nahm der damalige TV-Chefredakteur die Prozesse zum Anlass, den bisherigen Dauer-Gast für Interviews zur Innenpolitik de facto zu „sperren“: Wer mit Haider vor Gericht stehe, könne schwerlich die FPÖ objektiv analysieren. Es war ein sichtbarer Bruch in Pelinkas jahrzehntelanger Bildschirm-Präsenz. An seiner Stelle wurde immer häufiger Peter Filzmaier eingeladen, der an Pelinkas Institut politische Bildung lehrte.

ABSCHIED

Mein Plan für die Nachfolge Pelinkas war derweil gescheitert. Ich hatte zu lange studiert. Zwölf Semester wären die Mindestzeit bis zum Doktorat gewesen. Ich brauchte – neben meinem Beruf als Journalist – mehr als dreimal so lang. 20 Jahre nach der „Grundzüge“-Vorlesung wurde ich 2005 promoviert. Die Urkunde überreichte mir Anton Pelinka, damals Dekan. Ein Zufall, aber ein schöner.

Im Jahr darauf verließ der Professor für viele überraschend „sein“ Innsbrucker Institut: „Ich hatte lange genug Jüngerendie eine oder andere Sicht verstellt.“ Nach 31 Jahren wollte er „noch einmal etwas Neues wagen“ und akzeptierte ein Angebot der Central European University in Budapest. Auch dort blieb er unermüdlich produktiv. Sein letztes großes Buch „Faschismus? Zur Beliebigkeit eines politischen Begriffs“ erschien 2022.

Im selben Jahr wurde die Krebserkrankung diagnostiziert, an der Anton Pelinka nun 83-jährig nach schweren letzten Wochen gestorben ist. Er hinterlässt seine Ehefrau Marta Pelinka-Marková, eine Tochter und ein herausragendes Lebenswerk.

Niemand hat Österreich besser erklärt.