Grafik APA-Wahltrend

Wer wird Österreich regieren?

Voraussichtlich am 1. Oktober wird Karl Nehammer über den Ballhausplatz in die Hofburg gehen und dem Bundespräsidenten den Rücktritt der Regierung anbieten.* Das ist nirgendwo vorgeschrieben — wir wählen nächsten Sonntag ja einen neuen Nationalrat und nicht die Regierung —, aber seit Jahrzehnten nach einer Nationalratswahl Tradition.

Van der Bellen wird das Rücktrittsangebot annehmen und Nehammer gleichzeitig mit der Fortführung der Amtsgeschäfte betrauen, bis eine neue Regierung unter einem neuen Bundeskanzler steht. Und dieser Kanzler wird mit ziemlicher Sicherheit wieder Karl Nehammer heißen — trotz der Wahlniederlage, die seine Partei nächsten Sonntag erleben wird.

Warum ist das so?

In allen seriösen Umfragen führt die FPÖ seit vielen Monaten vor der ÖVP, die gegenüber der Wahl 2019 mindestens zehn Prozentpunkte verlieren wird — objektiv ein Debakel. Zuletzt wurde der Rückstand zur FPÖ jedoch kleiner, es ist nicht mehr undenkbar, dass die ÖVP letztlich doch noch knapp vorne liegt. Falls das passieren sollte, wird Karl Nehammer jedenfalls wieder Kanzler. Er ist dann in seiner Partei ein unanfechtbarer Held und hat mehrere Koalitionsoptionen, während es keine plausible Koalition gegen die Volkspartei gibt, solange die SPÖ die Zusammenarbeit mit den Freiheitlichen verweigert (und das wird sich realistisch in den nächsten Wochen nicht ändern).

WENN DIE FPÖ ERSTE WIRD?

Falls aber doch die Freiheitlichen Erster werden, wovon noch immer die meisten Demoskop·innen ausgehen, ist Herbert Kickl der strahlende Held seiner Partei. Er wäre der erste FPÖ-Chef, der die Freiheitlichen bei einer Nationalratswahl auf Platz 1 geführt hätte (selbst Haider gelang 1999 nur Platz 2, weit hinter der SPÖ). Aber Kickl wird für eine Regierung unter seiner Führung keine parlamentarische Mehrheit finden. SPÖ, Neos und Grüne verweigern eine Koalition mit den Freiheitlichen grundsätzlich und Nehammers ÖVP hat sich so kategorisch darauf festgelegt, den „gefährlichen“ und „rechtsextremen“ Herbert Kickl nicht zum Kanzler zu machen, dass sie von dieser Position realistisch nicht mehr wegkommt.

Skeptiker verweisen hier immer auf Niederösterreich und Salzburg, wo die ÖVP entgegen ihren Ankündigungen vor den Landtagswahlen dann doch mit der FPÖ koaliert hat. Das ist richtig — aber in beiden Fällen, um der ÖVP die Landeshauptleute zu sichern, nicht um unter einem FPÖ-Regierungschef den Juniorpartner zu spielen.

Würde die FPÖ — wie 1999 — als stärkere Partei der ÖVP den Kanzler anbieten (und Kickl nicht in die Regierung gehen, sondern z.B. Klubobmann bleiben), käme die ÖVP vermutlich in Versuchung, aber das hat wiederum die FPÖ kategorisch ausgeschlossen — und man weiß von Herbert Kickl, dass er die Entscheidung von 1999 für Jörg Haiders größten Fehler hält.

UND DOCH BLAU-SCHWARZ?

Nun ist aber auch bekannt, dass es in der ÖVP einen durchaus starken Flügel gibt, der lieber mit der FPÖ koalieren würde als mit der SPÖ unter Andreas Babler (die frühere VP-Generalsekretärin Laura Sachslehner spricht das auch offen aus). Um sich durchzusetzen, müsste dieser Flügel aber wohl Parteichef Nehammer stürzen. Das wäre denkbar, wenn die ÖVP mit einem katastrophalen Wahlergebnis nur Dritte wird. Doch danach sieht es in keiner Umfrage aus. Und je näher er an die FPÖ heranrücken kann, umso stärker ist Nehammers innerparteiliche Position.

Für Herbert Kickl heißt das paradoxerweise, dass ihm ein Wahlsieg nächsten Sonntag weniger Machtoptionen eröffnet als ein zweiter Platz. Ein erster Platz für die Freiheitlichen ist der praktisch sichere Weg in weitere Jahre Opposition. Ganz unabhängig davon, ob der Bundespräsident Kickl formal mit der Regierungsbildung beauftragen würde oder nicht.

DER „AUFTRAG ZUR REGIERUNGSBILDUNG“

Was hat es damit eigentlich auf sich? In der Verfassung kommt dieser Auftrag nirgendwo vor. Doch es hat sich seit Jahrzehnten als politische Usance etabliert, dass der Präsident nach der Wahl den Vorsitzenden der stimmenstärksten Partei offiziell damit betraut, eine Regierungsmehrheit zu finden. Notwendig ist das nicht. Wenn von vornherein klar ist, dass der Wahlsieger keine Mehrheit im Nationalrat finden wird, wäre der Auftrag eine — für die Regierungsbildung — sinnlose Ehrenrunde. Politisch könnte er trotzdem sinnvoll sein, wenn man vermeiden will, dass die FPÖ daraus eine große Opfererzählung macht.

Schwierig ist das, weil der Bundespräsident Herbert Kickl nach der Ibiza-Affäre 2019 als Innenminister entlassen hat (das kam noch nie seit 1945 vor) — und nun einen Politiker mit der Bildung einer Regierung beauftragen würde, dem er schon als Minister nicht mehr vertraut hat.

SONDIEREN, SONDIEREN, SONDIEREN

Meine Vermutung wäre: Es gibt nach der Wahl vorerst gar keinen Auftrag zur Regierungsbildung, sondern das Ersuchen des Präsidenten an die Vorsitzenden aller Parlamentsparteien, mögliche Mehrheiten zu „sondieren“. Wenn dann nach einigen Wochen Sondierungsgesprächen klar ist, welche Koalitionen denkbar sind und welche nicht, erfolgt — wenn überhaupt — der formale Auftrag.

Der Bundespräsident hat aus der Verfassung keine Vorgaben, wen er als Kanzler oder Kanzlerin und zu Minister·innen ernennt. Aber eine Regierung anzugeloben, die mangels Mehrheit wenige Tage später im Nationalrat wieder abgewählt wird, wäre eine absurde Übung. Also wird es letztlich einen Kanzler geben mit einer mehrheitsfähigen Koalition. Nach derzeitigem Stand wird das — siehe oben — nicht Herbert Kickl sein.

UND DIE SPÖ?

Aber warum nicht SPÖ-Chef Babler? Weil die Umfragen schon katastrophal daneben liegen müssten, damit das politisch plausibel wird. Bablers Wunschkoalition mit Grünen und Neos ist von einer Mehrheit kilometerweit entfernt. Und dass die SPÖ auf den letzten Metern noch die ÖVP überholt, ist äußerst unwahrscheinlich (Platz 1 ohnehin).

Doch selbst wenn die SPÖ Platz 2 schaffen sollte, müsste die ÖVP erst davon überzeugt werden, lieber den „Marxisten“ Babler zum Bundeskanzler zu machen als Kickl. Klar, Nehammer hat einen Kanzler Kickl nachhaltig ausgeschlossen, aber wenn die ÖVP hinter der SPÖ auf Platz drei landen sollte, wäre Nehammer wohl nicht mehr sehr lange sehr einflussreich. Dann könnte in der ÖVP jener Flügel übernehmen, der lieber mit den Freiheitlichen regieren will, denen man inhaltlich ohnehin sehr viel näher steht. Erst recht, wenn in der SPÖ Parteichef Babler durch einen Wahlerfolg (und das wäre Platz 2) gestärkt wird.

Das alles führt — aus heutiger Sicht, eine Woche vor dem Wahltag — zu folgendem Ergebnis: Wenn die Wahl halbwegs so ausgeht, wie alle Umfragen zeigen, wird die FPÖ ganz massiv Stimmen gewinnen, die SPÖ etwa stabil bleiben und die ÖVP dramatisch verlieren. Es wird lange Sondierungsgespräche geben, dann offizielle Koalitionsverhandlungen und irgendwann – ziemlich sicher nicht vor der steirischen Landtagswahl am 24. November – eine neue Regierung. Vermutlich aus ÖVP und SPÖ plus Neos oder Grüne. Vielleicht aus ÖVP und FPÖ, ohne Kickl als Minister. Der Bundespräsident wird einen neuen Kanzler angeloben. Er wird heißen wie der alte.


* Nachtrag vom 1.10.2024:

Die Demission der Bundesregierung findet am 2. Oktober statt. Das Wahlergebnis ist mittlerweile bekannt. Das plausibelste Szenario aus heutiger Sicht lautet, dass Karl Nehammer nach monatelangen Sondierungsgeprächen und Koalitionsverhandlungen im Jänner oder Februar 2024 als Bundeskanzler einer Dreier-Koalition aus ÖVP, SPÖ und den Neos neuerlich angelobt wird.

Die aktuelle ÖVP-Führung hat auch nach der Wahl bekräftigt, dass sie keinen Kanzler Kickl ermöglichen werde, der Wahlsieger FPÖ hat bekräftigt, dass sich Kickl nicht zurückziehen werde. Nach diesem Wahlergebnis ist nicht anzunehmen, dass Nehammer als Obmann gestürzt wird und ein Parteiflügel übernimmt, der die ÖVP als Juniorpartner in eine Koalition unter Kickl führt, solange sie in einer anderen Konstellation weiterhin den Kanzler stellen kann.

Warum die Neos und nicht die Grünen als dritter Partner? Weil 92 oder 93 Mandate für Schwarz-Rot zu wenig für eine tragfähige Regierung sind, eine Dreier-Koalition aber ohnehin als mühsam gilt und die Vertrauensbasis zwischen ÖVP-Führung und Grünen erodiert ist. Die ÖVP sieht die Neos als programmatisch kompatibler, während sie in einer Koalition mit SPÖ und Grünen zwei linken Partnern gegenüber stünde, die sich in vielen Themen sehr nahe sind. Da die ÖVP in dieser Konstellation die stärkste Partei wäre und zumindest theoretisch eine Koalitionsalternative hat, wird sie sich in der Frage des dritten Partners eher durchsetzen als die SPÖ (der die Grünen lieber wären).