Deckblatt B-VG

Eine elegante Ruine wird 100

Heute vor 100 Jahren hat die Provisorische Nationalversammlung in Wien das „Gesetz vom 1. Oktober 1920, womit die Republik Österreich als Bundesstaat eingerichtet wird“ beschlossen – die österreichische Bundesverfassung.

Sie ist eine der ältesten noch gültigen Verfassungen der Welt. Letztes Jahr hat der Bundespräsident ihre „Eleganz und Schönheit“ gelobt, sehr viele Jurist*innen haben damals geschmunzelt. „Eine innere und äußere Ruine“ hat sie einst Verfassungs-Professor und Justizminister Hans Klecatsky genannt.

Tatsächlich ist die österreichische Verfassung extrem unübersichtlich und zersplittert. Das Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) von 1920 wurde mehr als hundert Mal geändert, von seinen 152 Artikeln ist gerade noch ein Zehntel in seinem ursprünglichen Wortlaut in Kraft. Und nicht alle sind so elegant wie der berühmte Beginn:


Artikel 1, B-VG


Artikel 14a zum Beispiel gilt unter Jurist*innen als Schulbeispiel dafür, wie man Verfassungsinhalte nicht formuliert. In mehr als 600 Wörtern wird da bis ins kleinste Detail das „Gebiet des land- und forstwirtschaftlichen Schulwesens“ organisiert.

Mittlerweile gibt es mehr als 1.400 Verfassungsbestimmungen über unzählige Gesetze verstreut. Der Grund dafür ist eine österreichische Unsitte: Solange Regierungskoalitionen im Nationalrat Zweidrittel-Mehrheiten hatten, haben sie zahllose Regelungen als Verfassungsgesetze beschlossen – und so der Kontrolle durch die Verfassungsrichter*innen entzogen.

Der Verfassungsgerichtshof ist übrigens eine Erfindung von Hans Kelsen, dem „Vater“ und Hauptautor des B-VG: Ein Gericht, dessen zentrale Aufgabe es ist, den Gesetzgeber zu kontrollieren und zu überprüfen, ob alle gesetzlichen Regelungen der Verfassung entsprechen.

Verfassungsrichter

Erstaunlich häufig tun sie das nicht. So hat der VfGH allein 114 Gesetze der schwarz-blauen Koalition unter Wolfgang Schüssel aufgehoben und 92 Gesetze der rot-schwarzen Koalition unter Werner Faymann, wie Jurist*innen der Uni Innsbruck nachgezählt haben.

Bemerkenswert war aber auch 2007 die Aufhebung der Erbschaftssteuer (weil die Bemessung von Geld- und Grundvermögen ungleich war). Da sich SPÖ und ÖVP unter Kanzler Gusenbauer auf keine neue Formulierung einigen konnten, hat Österreich seither keine Erbschaftssteuer mehr. 2016 hat das Verfassungsgericht – in seiner vielleicht kontroversiellsten Entscheidung – erstmals eine bundesweite Wahl für ungültig erklärt und die Bundespräsidentenwahl wiederholen lassen.

Ein Jahr später hat das Gericht – und nicht das Parlament – die „Ehe für alle“ ermöglicht. Und zuletzt hat der VfGH im Juli die umstrittenen Corona-Ausgangsbeschränkungen aufgehoben – weil sie weiter reichten, als es das entsprechende Gesetz erlaubte. Derzeit berät das Gericht, ob aktive Sterbehilfe in Österreich weiterhin verboten sein darf und über das Kopftuchverbot in Volksschulen. Auch in diesen beiden Fällen ist durchaus denkbar, dass die geltenden Paragrafen nicht halten.

Art. 1 Grundgesetz

Was der österreichischen Bundesverfassung bis heute fehlt, ist ein sogenannter Grundrechte-Katalog. Während das deutsche Grundgesetz (siehe Bild) mit einer langen Auflistung beginnt, vom Recht auf persönliche Freiheit, über Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit bis hin zum Asylrecht, konnten sich die österreichischen „Verfassungsväter“ („Mütter“ gab es in der Spitzenpolitik noch keine) darüber nicht einigen. Sie griffen deshalb auf einen schon damals gut 50 Jahre alten Text aus der Monarchie zurück, das Staatsgrundgesetz von 1867. Dessen Grundrechte stehen bis heute im Verfassungsrang, später ergänzt um die Europäische Menschenrechtskonvention und die Grundrechtecharta der EU.

Auch eine „Ewigkeitsklausel“ wie im deutschen Grundgesetz kennt die österreichische Verfassung nicht. In Deutschland können die Grundrechte auf demokratischem Weg nicht mehr abgeschafft werden – eine Lehre aus der fatal gescheiterten Weimarer Republik und der NS-Diktatur. Eine Gesamtänderung unserer Verfassung ist hingegen möglich – und in der Verfassung selbst, im Artikel 44 (3), geregelt: Es braucht dafür eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament und danach eine Volksabstimmung.

Aber bedeutet das, man könnte auf demokratischem Weg die Demokratie in Österreich abschaffen? Ja, meint Clemens Jabloner, der ehemalige Präsident des Verwaltungsgerichtshofs in einem Interview für die „ZiB2-History“: Durch eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament für ein entspechendes Gesetz und eine verpflichtende Volksabstimmung (allerdings müßte Österreich dann die EU verlassen).

Art. 1 Unabhängigkeitserklärung

Nein, sagt Christoph Grabenwarter, der Präsident des Verfassungsgerichts. Sein Argument: Im Artikel 1 der Unabhängigkeitserklärung vom April 1945 heißt es wörtlich: „Die demokratische Republik Österreich ist wiederhergestellt und im Geiste der Verfassung von 1920 einzurichten.“ Das demokratische Prinzip wäre damit konstituierend für die Zweite Republik und unaufhebbar. Der VfGH selbst hat in einem Erkenntnis von 2001 jedenfalls die Frage zur Debatte gestellt, „ob eine Verfassungssuspendierung in einem Verfahren nach Art. 44 Abs 3 B-VG überhaupt erfolgen könnte“. Beantwortet hat er sie bisher nicht.

Unstrittig ist hingegen die Frage, wie das wahrscheinlich berühmteste Verfassungsgesetz, das nicht im B-VG steht, abgeschafft werden könnte: Das Neutralitätsgesetz.


Neutralitätsgesetz


Es wurde am 26. Oktober 1955 von ÖVP und SPÖ im Nationalrat beschlossen (gegen die Stimmen der FPÖ) und könnte deshalb auch ohne Volksabstimmung wieder außer Kraft gesetzt werden – eine neue Zweidrittel-Mehrheit im Parlament würde genügen. (Es gäbe dann noch völkerrechtliche Probleme, weil Österreich seine immerwährende Neutralität anderen Ländern quasi „versprochen“ hat.) Politisch ist das natürlich unrealistisch: Die Neutralität hat das Selbstverständnis der Zweiten Republik so sehr geprägt, dass eine Abschaffung ohne Volksentscheid undenkbar ist.

Apropos Volksentscheide: Davon gibt es im B-VG drei verschiedene Formen, aber relevant werden sie nur selten. Das erste Volksbegehren fand erst 1964 statt, damals zur Unabhängigkeit des ORF (der danach tatsächlich völlig neu aufgestellt wurde). Seither gab es zwar dutzende Volksbegehren, die meisten davon endeten allerdings mit einem drittklassigen Begräbnis im Parlament – einer folgenlosen Debatte.

Eine Volksbefragung gab es erst einmal: 2013 über die Wehrpflicht. Das Ergebnis wäre rechtlich nicht bindend gewesen, die rot-schwarze Koalitionsregierung hatte aber versprochen, das Resultat jedenfalls zu akzeptieren.

Das mit Abstand mächtigste Instrument ist die Volksabstimmung – die jedenfalls zwingende Folgen hat. Entsprechend sparsam geht die Politik damit um: Nur 1978 ließ Bruno Kreisky – ohne rechtliche Not – über das Atomkraftwerk Zwentendorf abstimmen und bekam vom Volk eine Abfuhr.


Stimmzettel EU-Referendum


1994 musste abgestimmt werden: Der EU-Beitritt war die bisher einzige Gesamtänderung der Verfassung, unter anderem, weil EU-Recht nun Vorrang vor nationalen Regelungen hat. Seither hat kein Referendum mehr stattgefunden, auch nicht 2007, als eine gravierende Verfassungsänderung verabschiedet wurde – interessanterweise ohne große öffentliche Debatte.

Damals hat das Parlament eine Verlängerung der Legislaturperiode beschlossen – der Nationalrat wird nun nicht mehr alle vier Jahre gewählt, sondern nur mehr alle fünf. Gut für die Abgeordneten, die das damals einstimmig beschlossen haben – sie haben damit (zumindest theoretisch) fünf Jahre Jobsicherheit. Weniger gut für die Wähler*innen: Ihr demokratisches Mitbestimmungsrecht wurde de facto um 25 Prozent verkürzt. (In der Praxis hat das weniger Folgen: Nur eine Regierung hat seither tatsächlich fünf Jahre gehalten, 2017 und 2019 wurde vorzeitig gewählt.)

2019 – nach der Ibiza-Affäre – hat Österreich auch einige verfassungsrechtliche Premieren erlebt. Erstmals in der Zweiten Republik hat der Bundespräsident auf Vorschlag des Kanzlers ein Regierungsmitglied entlassen: FPÖ-Innenminister Herbert Kickl.

Die FPÖ verließ die Koalition und Sebastian Kurz wollte mit neuen Minister*innen weiter amtieren, in der ersten Minderheitsregierung seit Bruno Kreisky 1970/71. Doch nach dem ersten erfolgreichen Misstrauensantrag im Nationalrat musste der Bundespräsident das Kabinett entlassen.

Abwahl Kurz

Laut Verfassung kann der Präsident völlig frei entscheiden, wen er als Kanzler oder Kanzlerin bestellt, solange sein*e Kandidat*in wahlberechtigt ist. In der Praxis bildet jedoch stets die Spitze der stärksten Partei die Regierung – oder jener Partei, die eine mehrheitsfähige Koalition im Nationalrat zustande bringt. Das ist auch sinnvoll. Eine Regierung, die im Parlament nicht genügend Unterstützung hat, würde sehr rasch durch ein Misstrauensvotum gestürzt.

Aber für die wenigen Monate bis zur vorgezogenen Neuwahl im Herbst 2019 hat Alexander Van der Bellen eine Beamt*innen-Regierung angelobt, mit der damaligen VfGH-Präsidentin Brigitte Bierlein als erster Bundeskanzlerin. Im Nationalrat herrschte das „freie Spiel der Kräfte“ – Gesetze wurden nicht von der Regierung vorgelegt, sondern von den Parteien und mit wechselnden Mehrheiten beschlossen.

Angelobung Bierlein

Viele Beobachter*innen fanden das spannend. Die Verfassung sieht zwar das Parlament als Gesetzgeber vor, in der Praxis entstehen die meisten Gesetzesentwürfe jedoch in den Ministerien, werden als sog. Regierungsvorlage in den Nationalrat gebracht und dort von der Koalitionsmehrheit verabschiedet. Initiativanträge der Opposition haben nahezu nie Aussichten auf Erfolg.

Hier zeigt sich die österreichische Realverfassung, die mit dem geschriebenen Text des B-VG oft nur wenig gemein hat. Jahrzehntelang war etwa der wahre Gesetzgeber im Land nicht das Parlament, sondern die fast allmächtige Sozialpartnerschaft, in der alle wichtigen Regelungen vorab ausgehandelt wurden. Eine der einflussreichsten Institutionen Österreichs kommt im B-VG gar nicht vor, die Landeshauptleute-Konferenz gegen die in der Praxis aber kein Gesetz in Kraft treten wird. Der Bundesrat hingegen steht in der Verfassung, ist aber weitgehend machtlos.

Die Unabhängigkeit des Rundfunks wird seit 1974 von einem eigenen Verfassungsgesetz garantiert. Gleichzeitig sitzen im ORF-Stiftungsrat Fraktionen aller Parlamentsparteien – etwas verschämt nennen sie sich hier „Freundeskreise“. Im Artikel 56 des B-VG ist fixiert, dass Parlamentarier „an keinen Auftrag gebunden“ sind – das berühmte freie Mandat. In der Praxis herrscht Klubzwang – oder wie Politiker*innen gerne sagen: Klubdisziplin. Die wird formal natürlich ganz freiwillig befolgt, tatsächlich wissen Abgeordnete aber auch, dass regelmäßiges Ausscheren aus der Klublinie nicht dramatisch förderlich für ihre weitere Karriere sein wird.

„Österreich ist ein Labyrinth, in dem sich jeder auskennt“, hat der geniale Helmut Qualtinger beobachtet. Das gilt wohl auch für unsere Verfassung. Weniger in der Theorie – dafür ist sie zu unübersichtlich -, offenbar aber in der Praxis. Der in beiden Bereichen erfahrene Jurist und Politiker Manfried Welan hat das so zusammengefasst: „Hat Österreich eine Verfassung? Nein, aber sie funktioniert.“
Auch nach 100 Jahren.


Noch ein paar weiterführende Hinweise zum Thema:

– Für eine „ZiB2-History“ zum 100. Geburtstag habe ich – quasi als „Beilage“ – ein gut 40 Minuten langes Gespräch mit Clemens Jabloner geführt, dem langjährigen Präsidenten des Verwaltungsgerichts und kurzzeitigen Justizminister unter Brigitte Bierlein. Er sagt in dem Interview sehr viel Spannendes und auch Unerwartetes – etwa, warum er wenig von „Verfassungs-Patriotismus“ hält oder vom „Geist der Verfassung“.

 

– Das Bundes-Verfassungsgesetz ist zum runden Geburtstag als sehr übersichtliches und schön gestaltetes Print-Magazin erschienen.

– Das Wiener Jüdische Museum bietet bis zum 5. April 2021 eine sehenswerte Austellung über Leben und Werk von „Verfassungs-Vater“ Hans Kelsen.

– Der Rechtshistoriker Thomas Olechowski hat eine hochgelobte neue Hans-Kelsen-Biografie geschrieben.

– Und wem das 1.027-Seiten-Werk zu umfangreich ist: Es gibt auch eine Graphic Novel über den berühmten Juristen.