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„Ist Putin noch rational, Herr Krastev?“

Kaum ein Experte weiß so viel über Wladimir Putin wie der bulgarische Politologe Ivan Krastev, der seit vielen Jahren in Wien am IWM, dem Institut für die Wissenschaft vom Menschen, arbeitet. Krastev hat in den letzten Jahren mehrere sehr lesenswerte Bestseller geschrieben, er kommentiert regelmäßig in der New York Times die internationale Politik und berät Spitzenpolitiker·innen in ganz Europa.

Vergangenen Montag, vier Tage nach dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine, habe ich für die ZiB2 mit Ivan Krastev gesprochen. Und weil es auf das Gespräch (hier die englische Originalfassung) extrem viele positive Reaktionen gab, habe ich es zum Nachlesen transkribiert:


Herr Krastev, viele Beobachter sind ziemlich überrascht, dass die russische Armee bisher nicht in der Lage war, die Ukraine quasi zu überrennen, Kiew zu erobern und den Widerstand der ukrainischen Armee zu brechen. Sie auch?

Ja, ich war überrascht, weil es viele Vorhersagen gegeben hat, auch von den amerikanischen Geheimdiensten, dass die Russen das können. Aber in Wahrheit ist die Überraschung für uns vielleicht kleiner als für die russische Führung. Eine der übelsten Dinge in der Politik ist es, wenn man zum Opfer der eigenen Propaganda wird. Und das ist meiner Meinung nach der russischen Führung in diesem Fall passiert. Sie hat wirklich geglaubt, dass die Ukrainer sie als Befreier erwarten würden und sie mussten feststellen, dass sie als Besetzer begrüßt worden sind.

Was war oder was ist Wladimir Putins Ziel mit diesem Krieg? Was will er erreichen?

Präsident Putin hat im Juli letzten Jahres einen Essay geschrieben – und er hat ihn wirklich selbst geschrieben und nicht nur seine Unterschrift darunter gesetzt -, in dem er im Grundsatz behauptet, dass die Ukrainer und die Russen dasselbe Volk sind. Er verfolgt die Idee eines historischen Russlands, das zumindest aus Teilen der Ukraine, dem Osten der Ukraine, aus Belarus und aus Russland besteht. Er sieht sich da selbst als eine Art Wiedervereiniger der russischen Gebiete. In seiner Vorstellung – und Sie dürfen nicht vergessen, dass er 1990 in Ostdeutschland war und nicht in der Sowjetunion – war die Ukraine eine Art Ostdeutschland, das nur darauf gewartet hat, mit Russland wiedervereinigt zu werden. Als er mit dieser Operation begonnen hat, war seine Grundidee, die russische politische Sphäre wiederherzustellen. Das muss nicht bedeuten, dass die Ukraine formell ein Teil von Russland wird, aber er hat jedenfalls geglaubt, dass eine pro-russische Ukraine herauskommen wird. Und wenn der Preis dafür die Teilung der Ukraine sein sollte, war er bereit, das zu tun.

Der israelische Historiker Yuval Harari sagt, Putin hätte diesen Krieg bereits verloren, weil es ihm nicht gelingen wird, die Ukraine zu besetzen, zu unterwerfen oder zu annektieren. Hat er recht?

Ja, er hat absolut recht. Putin glaubte wirklich, dass die westliche Orientierung der Ukraine Fake wäre, dass es ein paar pro-westliche und vom Westen bezahlte Eliten gibt, aber dass die ukrainische Bevölkerung auf die russische Armee gewartet hat, um wieder heimzukehren. Was ihm jetzt also passiert, ist, dass er nicht nur den Krieg verliert, sondern dass er sein Verständnis dafür verloren hat, was die Ukraine ist. Denn man sieht dort jetzt Menschen auf den Straßen, die nicht besonders gut bewaffnet sind und die nicht besonders gut ausgebildet sind, aber einfach dass sie mit Waffen in den Händen da stehen, zeigt, dass sie nicht daran glauben, dass die Ukraine russisch ist.

Man könnte sogar argumentieren, dass Putin das genaue Gegenteil von dem erreicht hat, was er erreichen wollte: Er hat die Ukraine noch mehr Richtung Westen getrieben als je zuvor und er hat den Westen in einer nie da gewesenen Weise geeint, von beispiellosen Sanktionen, über eine militärische Aufrüstung in Deutschland bis zu Waffenlieferungen sogar aus dem neutralen Schweden.

Jemand hat kürzlich auf Twitter geschrieben, dass Putin mit seinem Angriff auf die Ukraine drei Dinge erreicht hat, die ihm wahrscheinlich nicht gefallen: Die Einheit Europas, das Ende der Neutralität von Schweden und das Ende des deutschen Pazifismus. Und die wesentliche Geschichte ist, dass dieser Krieg – ähnlich wie die Pandemie – die Wahrnehmung der Menschen beschleunigt, dass wir jetzt in einer anderen Welt leben als gestern. Plötzlich – und das hat man in Deutschland sehr klar gesehen – ändern sich alle diese Vorstellungen: Dass Deutschland keine Waffen verkauft; dass militärische Macht nicht wichtig wäre;  dass es nur um wirtschaftliche Macht und um soft power geht. Plötzlich – innerhalb weniger Tage – reden die Europäer über die Welt auf eine völlig andere Art und Weise. Das erinnert mich sehr daran, wie Menschen in den 1920er und 1930er Jahren ihre Zeit als eine Nachkriegszeit wahrgenommen haben, nach dem Ersten Weltkrieg. Und wenn Historiker auf dieselbe Epoche schauen, sehen sie eine Zeit vor dem Krieg. Wir erleben jetzt einen solchen Moment, in dem man beginnt, die eigene Epoche anders wahrzunehmen. Das hat dieser Krieg erreicht. Und das ist meiner Meinung nach wirklich nicht das, was der russische Präsident erwartet hat.

Aber wie kommt Putin da wieder heraus? Es ist ja schwer vorstellbar, dass er nach drei Wochen sagen wird: Ok, ich hab’s versucht, es ist nicht gelungen, wir gehen wieder heim. Wie kann sein Endspiel aussehen?

Das ist die wirklich schwierige Frage. Denn er hat den Krieg mit einer bestimmten Erwartung begonnen und jetzt hat sich die Situation verändert. Jetzt kann er die Sache eskalieren, vielleicht mit der Hoffnung, sie damit auch wieder zu deeskalieren, aber in dem Moment, wo klar wurde, dass er diesen Krieg nicht mit Spezialkräften und irgendwelchen Spezialeinsätzen in Kiew gewinnen kann, hat der russische Präsident etwas getan, was in Europa sehr, sehr lange niemand getan hat: Er hat die Möglichkeit angedeutet, Atomwaffen einzusetzen. Auch das ist so ein Moment, den ich extrem gefährlich fand, weil wir hier eine Situation haben, die in vielerlei Hinsicht an den Anfang der Kriege bei der Auflösung von Jugoslawien erinnert. Und wenn man Präsident Putin zuhört, hört er sich an wie Präsident Milosevic damals, aber mit dem großen Unterschied, dass Russland eine Atommacht ist. Und das macht die Situation sehr schwierig. Natürlich ist ein Kompromiss möglich und ich bin sicher, dass die ukrainische Regierung bereit wäre, zu erklären, dass sie kein Interesse daran hat, der NATO beizutreten, wenn die russischen Truppen wieder abziehen. Aber dann stellt sich die Frage, von wo die russischen Truppen bereit wären, wieder abzuziehen. Sie erkennen jedenfalls die neuen Republiken im Donbass an. Wir sind also in einer wirklich schwierigen Situation – mit einer Atommacht, die sich selbst in eine Ecke gedrängt hat. Und Präsident Putin will einen Sieg, aber einen Sieg, den ihm weder die Ukrainer noch die Öffentlichkeit im Westen zugestehen wollen. Wir sind im Moment in einer wirklich gefährlichen Situation.

Aber ist es wirklich vorstellbar, dass Russland in diesem Krieg Atomwaffen einsetzt?

Ich glaube, die Wahrscheinlichkeit dafür ist nur sehr gering. Aber da gibt es etwas, dass selbst für die letzten Tage des Kalten Krieges typisch war, auch rund um 1989: Man hat Atomwaffen, aber man spricht nicht darüber. Nach der Kuba-Krise haben alle gewusst, wie gut ausgerüstet die jeweils andere Seite war, aber man hat nie mit Atomwaffen gedroht. Den Krieg in der Ukraine kann man bisher nicht mit früheren Kriegen vergleichen, etwa im früheren Jugoslawien, und man muss fairerweise sagen, dass die russischen Truppen angewiesen wurden, einigermaßen zurückhaltend vorzugehen, damit es nicht zu viele Opfer gibt, wegen der Befürchtung, dass das in der russischen Bevölkerung nicht gut ankäme. Aber plötzlich beginnt der russische Präsident über Atomwaffen zu reden. Und das ist ein Schock, besonders für die jüngere Generation, von denen manche wahrscheinlich nichtmal die Bedeutung des Wortes Atomwaffe kennen. Das soll natürlich psychologisch Druck auf die Ukraine machen und auf den Westen. Aber in dem Moment, in dem man beginnt, über dieses Thema zu reden, ändert sich die gesamte Konversation. Und dann sind da noch Sanktionen, die der Westen in den letzten 24 Stunden gegen Russland verhängt hat, die in ihrer Schärfe beispiellos sind. Da muss man erst sehen, wie Putin darauf reagiert und ob er sie nicht als Versuch versteht, in Russland einen Regierungswechsel herbeizuführen.

Sie kennen Putin persönlich. Er wurde immer als extrem rücksichtslos eingeschätzt, aber gleichzeitig als rational. Ist er noch immer rational?

Das wissen wir nicht. Menschen verändern sich. Putin war immer sehr strategisch. Er war taktisch oft sehr erfolgreich, aber Menschen, die ihn in letzter Zeit getroffen haben, sagen alle dasselbe: Nehmen Sie wörtlich, was er sagt. Wenn Sie die Leidenschaft gesehen haben an dem Abend, als er die „Spezialoperation“ bekanntgegeben hat – da haben wir jemanden gesehen, der sich sehr verändert hat. Wir können nur darüber spekulieren, woran das liegt. Das könnte die Corona-Isolation sein, es könnte das Gefühl sein, dass er kein junger Mann mehr ist und dass er die Probleme von Russland noch lösen will, solange er noch lebt. Aber selbst wenn es bisher ein Sendungsbewusstsein bei ihm gegeben hat, waren wir immer sicher, dass es ein ziemlich risikoscheues Sendungsbewusstsein war. Aber jetzt wissen wir nicht, wie es wird. Denn bisher war Herr Putin in vielen seiner Unternehmungen recht erfolgreich. Wir wissen jedoch nicht, ob er ein guter Verlierer ist. Und momentan sieht die Situation in der Ukraine nicht gut für ihn aus. Wird ihn das anstacheln, wie weit er gehen kann? Und das setzt auch die westlichen Politiker unter Druck. Denn auf der einen Seite sollten sie Herrn Putin möglichst daran hindern, seine Ziele zu erreichen. Auf der anderen Seite sollten sie aber so vorsichtig sein, dass sie damit nicht eine noch größere und noch gefährlichere Krise auslösen.

Von heutigen Standpunkt aus: Sind Sie in dieser Krise eher optimistisch oder eher pessimistisch?

(zögert…)
Ich habe die Befürchtung, dass die Situation außer Kontrolle geraten könnte. Aber es gibt eines, an das wir jedenfalls immer denken müssen: Dieser Krieg in der Ukraine ist kein Krieg Russlands. Es ist der Krieg Putins. Das ist der Krieg einer bestimmten Generation russischer Geheimdienstleute, die das Ende des Kalten Krieges und die Auflösung des Landes, das sie eigentlich beschützen sollten, nie überwunden haben. Wir wissen derzeit aber nicht, wie dieser Krieg in der russischen Bevölkerung ankommen wird. Es ist jedenfalls nicht dasselbe wie bei der Krim. Nach der Annexion der Krim gab es in Russland – ob uns das gefällt oder nicht – eine große Begeisterung. Russen hatten damals das Gefühl, sie wären auf der richtigen Seite. Das sehe ich heute nicht. Das heißt, es wird externen Druck geben und es wird internen Druck geben und ich hoffe sehr, dass Präsident Putin einen Ausweg finden wird, wie er aus dieser Situation ohne große Eskalation herauskommt. Aber es wird nicht einfach werden, weder für ihn, noch für die Ukrainer. Und der Krieg kann noch schlimmer werden, bevor es wieder besser wird.
Diese Frage über Optimismus oder Pessimismus sollten sie jemandem aus Bulgarien aber nie stellen. Wir sind nicht sehr bekannt für unseren Optimismus.