„Die Überlegungen Wolfs vernachlässigen daher…“

Mein jüngster Blog-Beitrag über die Bestellung des ORF-Stiftungsrats hat in der letzten Sitzung des Gremiums und im Kanzleramt einige Aufregung ausgelöst. Etliche Stiftungsräte fühlten sich, so wird erzählt, durchaus persönlich angegriffen. Dabei ging es in meinem Text ausschließlich darum, dass ich die Gesetzesbestimmung, mit der sie bestellt wurden, für problematisch halte; konkret für offenkundig verfassungswidrig, wenn man einem Kommentar von Christoph Grabenwarter folgt, dem Präsidenten des Verfassungsgerichts.

Eine „Fehlinterpretation“ nannte das Klaus Poier, Stiftungsrat des Landes Steiermark und hauptberuflich Verfassungsjurist. Und Medienministerin Susanne Raab forderte vom Verfassungsdienst im Kanzleramt eine eigene Stellungnahme zu meinem Blog-Beitrag an.

Freundlicherweise hat mir Kanzler-Sprecher Daniel Kosak diese Stellungnahme auf meine Anfrage zur Verfügung gestellt – mit der Genehmigung, die wesentlichen Passagen im Sinne einer offenen Debatte hier zu veröffentlichen. Und das meint der Verfassungsdienst in seiner „Information für die Bundesministerin“ vom 16. März (Hervorhebungen im Original):


Zum Zitat von Univ.-Prof. Grabenwarter

Im Abschnitt der Kommentierung, der das obige Zitat enthält, behandelt Grabenwarter die Anforderungen an die Zusammensetzung von Rundfunkorganen für die effektive Gewährleistung der Programmvielfalt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Darin kommt er unter Zugrundelegung der Judikatur des deutschen Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) in Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG zum Ergebnis, dass verschiedene politische Strömungen möglichst vielfältig in den Rundfunkorganen vertreten sein müssen und daraus die Notwendigkeit erwächst, auch kleinere politische Gruppen einzubeziehen.

In einem abschließenden Absatz erwähnt Grabenwarter schließlich unter Verweis auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) in der Rechtssache Manole, dass auch Art. 10 EMRK die Vielfalt im Rundfunk gewährleistet und diese Pflicht nicht dadurch unterwandert werden dürfe, dass eine gewichtige Gruppe innerhalb der Rundfunkanstalt Druck auf die Veranstalter ausüben kann. In diesem Zusammenhang fällt auch das obige Zitat.

Zur Rechtssache Manole

Im Urteil in der Rechtssache Manole stellte der EGMR eine Verletzung des Art. 10 EMRK wegen unmittelbarer Einflussnahme der kommunistischen Partei in Moldawien auf die redaktionelle Tätigkeit von Journalisten der im moldawischen Staatseigentum stehenden Rundfunkanstalt TRM fest. Konkret wurde eine Reihe leitender Angestellter durch regierungstreue Mitarbeiter ausgetauscht, die Verwendung bestimmter Phrasen – wie etwa „totalitäres Regime“ – und die Berichterstattung über bestimmte Themen und Ereignisse verboten. Verstöße gegen diese Verbote wurden disziplinar­rechtlich sanktioniert und in mehreren Fällen mit Abberufungen von Nachrichtensprechern geahndet.

Die Organe der Rundfunkanstalt TRM bestanden aus einem Präsidenten, einem Vize-Präsidenten und dem Aufsichtsrat, die allesamt von einem sog. Koordinationsrat bestellt wurden. Dieser wiederrum bestand aus neun Mitglieder, wovon jeweils drei vom Präsidenten, dem Parlament und der Regierung bestellt wurden. Die kommunistische Partei stellte sowohl die Alleinregierung also auch den Präsidenten und verfügte im Parlament über eine absolute Mehrheit. Somit wurden alle neun Mitglieder des Koordinationsrates und damit sämtliche Organe der Rundfunkanstalt von der kommunistischen Partei bestellt.

Vor dem Hintergrund dieser einseitigen Bestellung durch eine Partei in Verbindung mit der direkten Einflussnahme der Organe auf die redaktionelle Tätigkeit der Rundfunkanstalt (und angesichts des Umstandes, dass TRM in diesem Zeitraum die einzige Rundfunkstation in Moldawien war), stellte der EGMR eine Verletzung von Art. 10 EMRK fest.

Bewertung

Nach Einschätzung des Verfassungsdienstes handelt es sich bei den Überlegungen von Grabenwarter um eine dem Zweck eines Gesetzeskommentars entsprechende Kommentierung, die die Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR widerspiegelt. Aus den diesbezüglichen Darstellungen über die auf Art. 5 GG bezogene Sicht des BVerfG und aus den Zitaten der EGMR-Judikatur lässt sich aber nicht schließen, dass die die Zusammensetzung der Organe des ORF regelnden Bestimmungen des ORF-Gesetzes „offenkundig verfassungswidrig“ wären.

Dies ist insofern zu betonen, als sich die Ausführungen Grabenwarters eindeutig auf den Sachverhalt in der Rechtssache Manole beziehen, der aber mit der österreichischen Situation in keiner Weise vergleichbar ist. So wurden in der Rechtssache Manole alle Mitglieder des Koordinationsrates sowie alle weiteren Organe der Rundfunkanstalt von einer Partei bestellt; ferner resultierte die vom EGMR festgestellte Verletzung von Art. 10 EMRK insbesondere auch aus der direkten Einflussnahme auf die redaktionelle Tätigkeit.

Die Überlegungen Wolfs vernachlässigen daher insbesondere, dass die auf Art. 1 Abs. 2 des Bundesverfassungsgesetzes über die Unabhängigkeit des Rundfunks zurückgehenden Bestimmungen des ORF-Gesetzes einerseits die Unabhängigkeit aller programm­gestaltenden Mitarbeiter (§ 32 ORF-G) absichern und andererseits die Weisungsfreiheit der Organe ausdrücklich in § 19 Abs. 2 ORF-G gewährleisten. Diese gesetzliche Konzeption wird durch die Inkompatibilitätsbestimmungen in § 20 Abs. 3 und § 28 Abs. 2 ORF-G ergänzt. Schließlich ist auch der im Wesentlichen seit 1974 geltende Bestellungsmodus der Organe nach dem ORF-Gesetz nicht mit der Konstellation in der Rechtssache Manole vergleichbar.

Resümierend lässt sich daher feststellen, dass das aus dem Gesamt­zusammenhang herausgerissene Zitat dem Autor des Gesetzeskommentars eine Rechtauffassung zum ORF‑Gesetz unterstellt, die dieser gar nicht geäußert hat.


Nun bin ich leider kein Verfassungsjurist sondern Politologe, aber ich muss gestehen, ich finde das nicht sehr überzeugend.

VfGH-Präsident Grabenwarter bezieht sich zwar u.a. auf die Rechtssache Manole aus Moldawien aus dem Jahr 2009 (die eine ganz zentrale Entscheidung des EGMR zur Rundfunkfreiheit war). Aber ich habe hier keinen Text über diesen konkreten Fall zitiert und auch keinen über die Rechtssprechung des EGMR, sondern einen sehr umfassenden Kommentar Grabenwarters zur Rundfunkfreiheit in Deutschland.

Nun ist die deutsche Situation aber nicht wesentlich anders als in Österreich (und uns jedenfalls sehr viel ähnlicher als Moldawien). Und offenbar fand es Grabenwarter in einer grundlegenden Analyse zur „Staatsferne“ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in Deutschland sinnvoll und notwendig, auch die Vorgaben durch die Europäische Menschenrechtskonvention zu erwähnen – und sehr klar zusammenzufassen: „Herrscht in den Organen eine zu große Mehrheit von Vertretern der Regierungspartei(en), wird Art. 10 EMRK verletzt.“

Ich weiß nicht genau, wie sich dieser unmissverständliche Satz in einen Kommentar zur Rundfunkfreiheit in Deutschland verirren sollte, wenn es dabei ausschließlich um die „in keiner Weise vergleichbare“ Situation in Moldawien ginge. Da die EMRK aber Teil der österreichischen Verfassung ist, halte ich Grabenwarters klare Feststellung auch hierzulande für relevant. Eben weil im ORF-Stiftungsrat eine permanente Mehrheit von Vertretern der Regierungsparteien herrscht (ab Mai sogar eine Zweidrittel-Mehrheit, wie ich im letzten Blog-Beitrag dargelegt habe).

Wie der Verfassungsdienst in seiner Stellungnahme richtig schreibt, ist die Weisungsfreiheit und Unabhängigkeit der ORF-Stiftungsräte gesetzlich vorgeschrieben (deshalb – so die Logik – könnten sie gar keine Vertreter der Regierungsparteien sein). Leider wird diese formelle Unabhängigkeit in der Praxis aber nachhaltig unterlaufen: Durch die Organisation in Partei-„Freundeskreisen“, durch ein gesetzliches Verbot geheimer Abstimmungen, durch das fast durchgängige Stimmverhalten entlang der Fraktionslinien und durch die Vorab-Festlegung von Stiftungsrat-Entscheidungen in Sideletters zu Koalitionsvereinbarungen. Österreichische Realverfassung eben.

Schon 2014 resümierte Magdalena Pöschl, Professorin für Verfassungsrecht an der Uni Wien in einer ausführlichen Analyse zur „Meinungsvielfalt im öffentlich-rechtlichen Rundfunk“:

„Alles in allem ist der Stiftungsrat […] ein Gremium, das nur in Ansätzen pluralistisch besetzt ist. Selbst diese bescheidenen Ansätze kommen aber nicht zum Tragen, weil der Stiftungsrat nahezu ausnahmslos mit einfacher Mehrheit entscheidet und weil zudem geheime Abstimmungen nicht zulässig sind; so setzen sich in aller Regel jene Stiftungsräte durch, die den Regierungsparteien nahestehen.“ 

Ich fürchte, mich überzeugt das mehr als die flapsige Kurzanalyse „Fehlinterpretation“ durch einen Verfassungsjuristen, der von einer Regierungspartei (der steirischen ÖVP) für den Stiftungsrat nominiert wurde. Und auch mehr als die Stellungnahme des Verfassungsdiensts, der das aktuelle ORF-Gesetz vor seinem Beschluss ja geprüft und offensichtlich als verfassungskonform eingeschätzt hat. Es wäre doch ziemlich überraschend, würde derselbe Verfassungsdienst dasselbe Gesetz (oder Teile davon) heute für verfassungswidrig halten.
Umso neugieriger wäre ich auf eine unabhängige Interpretation durch das Verfassungsgericht.


Nachtrag vom 30.3.22: Der von mir recht eilig geschriebene Text wurde in einzelnen Formulierungen nachträglich präzisiert.