Stiftungsrat-Sitzungssaal

„… werden als verfassungswidrig aufgehoben.“

Der Einfluss der Bundesregierung auf die ORF-Gremien ist zu groß. Das hat der Verfassungsgerichtshof (VfGH) jetzt in einem historischen Erkenntnis festgestellt.

An dieser Entscheidung bin ich eventuell nicht ganz unschuldig. In diesem Blog habe ich letztes Jahr auf einen Aufsatz von VfGH-Präsident Grabenwarter von 2018 zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland aufmerksam gemacht. Grabenwarter hat damals argumentiert, dass der übergroße Einfluss von Regierungen auf den öffentlichen Rundfunk der Rechtssprechung zur Meinungsfreiheit (Art. 10) in der Europäischen Menschenrechtskonvention widerspricht. Daraus habe ich geschlossen, dass auch die Besetzung des ORF-Stiftungsrats – wo die Regierungsparteien per Gesetz quasi automatisch eine Mehrheit haben – verfassungswidrig sein müsste.

Die Regierung (konkret ihr Verfassungsdienst) hat das vehement bestritten, aber die burgenländische Landesregierung ist im Juni 2022 tatsächlich vor den Verfassungsgerichtshof gezogen und hat in einem ausführlichen Antrag die Aufhebung jener Bestimmungen verlangt, in denen das ORF-Gesetz die Bestellung von Stiftungs- und Publikumsrat regelt.

Heute hat sie damit – teilweise! – recht bekommen.

Das Höchstgericht ist nicht der gesamten Argumentation gefolgt. So sieht der VfGH kein Problem darin, dass ein Teil der ORF-Stiftungsräte (konkret sechs) von den im Nationalrat vertretenen Parteien nominiert wird. Das sei quasi naturgemäß pluralistisch. Ähnliches gelte für die neun Stiftungsräte der Bundesländer. Die fünf vom ORF-Betriebsrat entsandten Mitglieder standen ohnehin nie in Frage. Und dass der ORF-Publikumsrat aus seiner Mitte Stiftungsräte nominiert (auch sechs), ist für die Höchstrichter·innen sogar besonders pluralistisch.

ABER: Es sei nicht vertretbar, dass die Bundesregierung allein mehr Stiftungsräte aussuchen kann als der (grundsätzlich) pluralistischere Publikumsrat, nämlich neun versus sechs. Das sei „ein deutliches Übergewicht“.

UND: Es geht nicht, dass es „weitgehend im Belieben“ des Bundeskanzlers steht, die Mehrheit der Publikumsräte auszuwählen (17 von 30), die dann sechs Stiftungsräte bestimmt.

„UNABHÄNGIGKEIT GEFÄHRDEN“

Das würde letztlich dazu führen, dass der Einfluss der Bundesregierung im Stiftungsrat zu groß ist. Das ORF-Gesetz müsse nämlich dafür sorgen, dass keinem staatlichen Organ „ein einseitiger Einfluss auf die Zusammensetzung des Organs zukommt, der dessen Unabhängigkeit insgesamt gefährden kann“.

Das ist der entscheidende Satz in den 76 Seiten. Der Bestellungsmodus für Stiftungs- und Publikumsrat im aktuellen ORF-Gesetz ist also verfassungswidrig – und muss bis Ende März 2025 geändert werden, sagt das Gericht.

Diese Frist ist nicht unheikel: Die nächsten Nationalratswahlen finden spätestens im September 2024 statt. Ob sich die türkis-grüne Koalition bis dahin auf einen neuen Bestellmodus einigen kann, ist ziemlich ungewiss. Die Grünen wollten das schon bisher, doch die ÖVP hat das kategorisch abgelehnt. Das ist wenig überraschend: Die ÖVP profitiert ganz enorm vom derzeitigen Gesetz, das sie 2001 gemeinsam mit der FPÖ beschlossen hat, und stellt (mit 37% der Stimmen bei der letzten Nationalratswahl) eine absolute Mehrheit im aktuellen Stiftungsrat.

Wenn die Nationalratswahl tatsächlich erst im September 2024 stattfindet, gibt es wohl erst zum Jahreswechsel eine neue Regierung. Für die bleibt dann aber nur mehr wenig Zeit bis März 2025. Und wenn es wieder eine Regierung aus ÖVP und FPÖ sein sollte, könnte das für den ORF extrem problematisch werden. Die FPÖ möchte nämlich nicht die politische Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks stärken, sondern den ORF radikal verkleinern und aus dem Staatsbudget finanzieren, also de facto verstaatlichen.

UND DIE „FREUNDESKREISE“?

Die heutige Entscheidung des Verfassungsgerichts ist – vor allem auch symbolisch – wichtig für die politische Unabhängigkeit des ORF, aber sie ist auch vergleichsweise zurückhaltend. Das Gericht hält nur den übergroßen Einfluss der Bundesregierung (beim Stiftungsrat) und des Bundeskanzlers (beim Publikumsrat) für problematisch – und dass Stiftungsräte bei Neuwahlen vorzeitig abberufen werden können.

Aber die jeweiligen Regierungsparteien bestimmen die Zusammensetzung der ORF-Gremien auch über die Stiftungsräte der Bundesländer (in denen sie oft auch regieren) und über die Sitze der Parteien. Wenn das Gesetz also nur so repariert wird, dass es dem heutigen Erkenntnis formal gerade noch genügt, ändert sich an der – quasi permanenten – Mehrheit der Regierungsparteien im Stiftungsrat nur sehr wenig. Das wäre extrem bedauerlich.

Schade ist auch, dass das Gericht weder die vom Gesetz vorgeschriebenen offenen Abstimmungen aufgehoben hat (durch die das Stimmverhalten der Stiftungsräte immer kontrolliert werden kann), noch die sogenannten Freundeskreise – also die parteipolitischen Fraktionen – stärker problematisiert hat.

Gleich gar nicht angefochten wurde im Antrag des Burgenlands, dass die Länder-Stiftungsräte praktisch freihändig von den jeweiligen Landeshauptleuten ausgesucht werden können, und das bizarre „Anhörungsrecht“ der Landeshauptleute bei der Bestellung von ORF-Landesdirektor·innen.

EINE HISTORISCHE CHANCE

Der heutige VfGH-Entscheid wäre natürlich trotzdem eine historische Chance, die ORF-Gremien völlig neu – und wirklich unabhängig – aufzustellen.

Das ist keine triviale Aufgabe und die Politik hat hier einen natürlichen Interessenskonflikt: Sie müsste ihren eigenen Einfluss auf den ORF beschränken. Das wäre eine nahezu prototypische Aufgabe für einen „Bürgerrat“, der dazu ein Modell ausarbeiten könnte, ich habe das schon vor langer Zeit einmal vorgeschlagen.

Als jemand, der die österreichische Politik schon sehr lange recht nahe verfolgt, bin ich leider nicht sehr optimistisch, dass das passieren wird. Aber immerhin ist seit heute klar, dass die politische Unabhängigkeit des ORF gesetzlich besser abgesichert werden muss. Und das ist ja schon mal was.


Zum Nachlesen:
Die heutige Presseaussendung des VfGH mit einer Zusammenfassung der 76 Seiten langen Entscheidung.
Und das Erkenntnis selbst – die relevanten Passagen finden sich ab Seite 59, davor werden ausführlich die Rechtslage und die Argumente von Antragsteller und Regierung erläutert.

Außerdem hier noch zwei lesenswerte Kommentare zum Thema aus dem STANDARD und der PRESSE sowie ein PROFIL-Interview mit Hans Peter Lehofer, einem der kundigsten Medienjuristen des Landes.

Nachtrag vom 11. Oktober:
Auf seinem Blog liefert Hans Peter Lehofer auch die bisher ausführlichste Analyse des VfGH-Entscheids. Drei Punkte sind dabei besonders interessant:
– Das Höchstgericht schreibt in dem Erkenntnis – ohne unmittelbare Notwendigkeit – eine de facto Bestandsgarantie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk fest. (Das könnte für allfällige Pläne der FPÖ zu einer radikalen ORF-Reform noch bedeutsam werden.)
– Im Gegensatz zum deutschen Höchstgericht, das in seinem berühmten Urteil von 2014 die „Staatsferne“ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verlangt hat, betont der VfGH die „Unabhängigkeit“. Es können demnach durchaus staatliche Organe die ORF-Gremien beschicken, diese müssten dann aber von ihren Entsendern unabhängig sein. Lehofer nennt das „Staatsferne light“ (und scheint kein besonderer Fan des Konzepts zu sein, das ist allerdings meine Interpretation).
– Lehofer findet im Erkenntnis doch auch – indirekte – kritische Anmerkungen zu den Partei-„Freundeskreisen“ im Stiftungsrat. So dürften die ORF-Gremien laut VfGH etwa „nicht einseitig durch faktisch oder rechtlich zu einer Gruppe verbundenen Personen dominiert werden“.
An dieser Stelle im Erkenntnis (RN 66) werden übr. auch das berühmte EGMR-Urteil Manole gegen Moldawien und der Aufsatz von VfGH-Präsident Grabenwarter aus dem Jahr 2018 zitiert, die laut Verfassungsdienst nicht auf die Situtation in Österreich anwendbar wären. Das hat der Verfassungsgerichtshof dann letztlich doch anders gesehen.