Sitzend in meinem Büro

In der Corona-WG: Mein letzter Tag

Heute ist mein letzter Tag hier in der ORF-Sperrzone. Nach der ZiB2 heute Abend packe ich meine sieben Sachen und fahre nach zwei Wochen „Isolation“ nachhause zu meiner Familie. Das Notbett in meinem Büro ist bereits abgezogen und meine Wäsche aus dem Aktenschrank geräumt.

Was habe ich hier gelernt?

Stressigste Erkenntnis: Man muss sich für die Kasernierung nicht besonders ausrüsten. Ich hatte eigens ein paar neue Bücher auf meinen Kindle geladen. Keines davon gelesen. Auf meinem iPad gibt’s diverse Streaming-Accounts – nichtmal die letzte Folge „Picard“ habe ich bisher geschafft. Die kaputten Playstations im Aufenthaltsraum sind niemandem abgegangen. Es gab wirklich wenig freie Zeit. Aber beim nächsten Mal: Eigenen Kopfpolster mitbringen!

Abgezogenes Bett

Wichtigste Erkenntnis: Die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit/Privatleben ist viel entscheidender als ich dachte. Viele Menschen bemerken ja dieser Tage, dass Home Office gar nicht so toll ist, wie sie sich das vorgestellt hatten. Office Home ist definitiv nicht toll.

Ich fahre üblicherweise ca. fünfundzwanzig Minuten ins Büro, viele Jahre mit dem Auto, seit einigen Monaten mit U-Bahn und Bus, weil ich da lesen und die Zeit besser nützen kann. Aber diese fünfzig Minuten am Tag hin und retour hielt ich immer für Zeitverschwendung. Jetzt weiß ich, dass sie nützlich sind – um herunterzukommen, mit dem Arbeitstag abzuschließen und Job & Privatleben voneinander zu unterscheiden. (Ok, fünfzehn Minuten in jede Richtung täten es auch.)

Kalender-Auszug

Hier in der Isolierung verschmilzt das alles. Ich wache in meinem Büro auf, arbeite hier und schlafe hier wieder ein. Klingt gar nicht unpraktisch, aber als Ergebnis gibt es – jedenfalls gefühlt – nie Ruhephasen und wirkliche Freizeit.

Das war ja früher noch viel strenger getrennt: Bevor es Email und Smartphone gab, war für die allermeisten von uns mit dem Verlassen des Büros tatsächlich „Feierabend“. Wer kein Arzt in Rufbereitschaft mit „Pager“ war, den hat der Arbeitgeber nur in Notfällen daheim am Festnetz belästigt.

Handys und Email haben diese Trennung schon lange aufgeweicht, viele von uns checken morgens zuhause die ersten beruflichen Mails und beantworten noch spätabends welche. Und trotzdem gibt es normalerweise – jedenfalls für Angestellte wie mich – ein Zuhause. Und einen Arbeitsplatz.
Ich schätze das nach diesen beiden Wochen sehr viel mehr.

Feldbetten im Schlafsaal

Am wenigsten überraschende Erkenntnis: Ich schlafe und dusche lieber alleine. Die Sache mit den Feldbetten im Schlafsaal war glücklicherweise schon durch, als wir von der ZiB-Redaktion vor zwei Wochen eingezogen sind. Die Kollegen von der Sendeleitung und aus dem Hauptkontrollraum, die schon fünf Tage vor uns „isoliert“ wurden, hatten die ersten drei Nächte noch gemeinsam im Schlafsaal verbracht, bevor sie rebellierten und in leerstehende Büros von Kollegen, die derzeit von zuhause arbeiten, übersiedeln durften. Der ORF hat dafür übers Wochenende einen Schwung – begrenzt bequemer – Betten organisiert. Trotzdem danke!

Bett im Büro

Die Gemeinschaftsduschen gibt es nach wie vor – jedenfalls für die ca. fünfzig Männer in der Sperrzone. Die Kolleginnen wohnen in „Künstlergarderoben“, die es im ORF für Shows und große Produktionen gibt, und sie haben dort eigene Duschen – dafür aber kein Tageslicht. Ich hatte lieber ein Fenster. Aber wichtiger Lernpunkt: Nicht zu früh duschen gehen! Viele Männer + wenige Duschen = Gedränge.

Gemeinschafsdusche

Anstrengendste Erkenntnis: Es gibt in Österreich mehr Covid19-Expert*innen als Fußballtrainer. Jeden Tag bekomme ich eine Unzahl von Emails, üblicherweise mit den immer gleichen Links zu den YouTube-Videos der immer gleichen drei Ärzte, die die Pandemie für einen großen Schwindel halten, mit ausführlichen Sterbetabellen aus Italien und detaillierten Grippe-Statistiken. Diese Mails sind gerne sehr lang, nicht selten recht vorwurfsvoll und enden häufig mit „Aber das dürfen Sie ja sicher nicht berichten !!!“

Etliche waren allerdings auch nachdenklich, klug und nachvollziehbar argumentiert und absolut lehrreich. Daraus sind manche ZiB2-Geschichten entstanden oder zumindest Fragen in Interviews.

Daneben kamen noch hunderte Mails von Menschen, die – oft wohl sehr berechtigt – auf bürokratische Probleme beim Härtefonds, bei Kurzarbeitsanträgen oder mit Schutzkleidung hinwiesen, auf übereifrige Polizist*innen oder Beamt*innen, die neue, unübersichtliche Vorschriften im Zweifel lieber eng als großzügig und pragmatisch interpretieren. Da waren viele berührende und auch unverständliche Geschichten dabei, manches floss auch davon in Berichte ein, meistens wollten die Absender*innen aber doch lieber anonym bleiben.

Ausschnitt Email

Und dann sind da noch die Wutbürger, die mir unbedingt – und meist in vielen Großbuchstaben – mitteilen müssen, für wie unfassbar SCHWACHSINNIG sie die Maßnahmen der Regierung halten, gerne kommt da auch das Wort DIKTATUR vor oder der strunzdumme Satz „Das erinnert an die dunkelsten Zeiten unserer Geschichte !!!“.

Kleiner Tipp: Mails, in denen das Empfängerfeld mehr als fünf Adressat*innen enthält und/oder in denen Textpassagen farbig, fett UND unterstrichen sind, lösche ich ungelesen. Ich bin 53, ich hab nicht mehr so viel Zeit.
(Im übrigen wären da Bundespräsident, Kanzler, Nationalratspräsident, die Volksanwaltschaft oder das Salzamt bessere Adressen. Aber die ersten vier stehen meistens ohnehin im Empfängerfeld.)

Entzückendste Erkenntnis: Wie kreativ, fantasievoll und engagiert enorm viele Menschen in dieser Krise sind. Wir haben am Ende der ZiB2 eine kleine Serie mit „Corona-Hausmusik“ begonnen und jeden Tag kamen neue Videos, eines hübscher und herzerwärmender als das nächste.

Vom Musiklehrer, der in seiner Küche ein Motivationsvideo für seine Schlagzeug-Schüler*innen dreht, über eine Saxophon-Combo, die in Heimarbeit „I am from Austria“ bläst, über die Tiroler Schuhplattler-Truppe, den Laien-Chor, die Musikschule und das Profi-Orchester bis zu eigens komponierten Corona-Liedern: hier oder hier oder hier. Und für meine letzte Sendung heute haben Weltklasse-Schlagwerker Martin Grubinger & Friends in Venezuela, den USA, Marokko, Deutschland und Österreich in die Instrumente gegriffen.

Banalste Erkenntnis: Ich brauche mehr Frischluft, Auslauf und direkten menschlichen Kontakt als ich dachte. Eingesperrt sein ist nicht mal toll, wenn man theoretisch – wie wir hier – jederzeit raus kann. Und Skype-Konferenzen nerven !!! (Siehe meinen Kalender-Auszug oben.) Ich will mit lebendigen Menschen zusammenarbeiten, die ich auch tatsächlich sehe. Und ich freue mich aufs Spazierengehen.

Aussicht auf Baustelle

Unser abgesperrter Innenhof hier ist zwar sonnig und besser als nix, aber doch ziemlich klein, sehr laut and die Aussicht ist bescheiden. Was man auf dem Foto sieht, sind nicht Aufräumarbeiten in Tschernobyl, sondern der Bereich des ORF-Areals neben uns, wo am neuen multimedialen Newsroom gebaut wird (hey, braucht doch keiner mehr, wir haben Skype entdeckt!).

Schrägste Erkenntnis: Dass es erstaunlich viele Menschen gibt, die einem selbst das Eingesperrtsein neidig sind. In einem früheren Blogpost habe ich ein Foto von unserer Mittagspause am ersten sonnigen Tag der Isolation gezeigt. Einige von uns ruhten sich auf den Feldbetten im Innenhof aus. „Ferienlager für Zwangsgebühren“ kam auf meiner Facebook-Seite in diversen Variationen ca. fünfzig Mal daher. (Ich habe das Foto dann wieder gelöscht, weil es mir zu deppert wurde, auf die Kommentare zu antworten.)

Netteste Erkenntnis: Wir sind/waren hier 68 Menschen aus den verschiedensten Bereichen des ORF, von denen viele im „normalen“ Leben nur wenig miteinander zu tun haben. Die Sendeleitung und Sendeabwicklung zum Beispiel sind ein grundsätzlich abgesperrter Bereich, zu dem niemand, der nicht dort arbeitet, Zutritt hat.

Sendeleitung

Es ist sowas wie die Kommandobrücke des ORF – wer hier eindringen könnte, hätte die Möglichkeit, den gesamten Sendebetrieb lahmzulegen. Ich war hier noch nie, bis vor wenigen Tagen wusste ich nichtmal, wo die Sendeleitung in dem gewaltigen Gebäudekomplex zu finden ist.

In der gemeinsamen „Isolation“ haben wir jeden Tag miteinander gegessen, getratscht und Ping-Pong gespielt – Sendeleitung, Abwicklung, Hauptkontrollraum, CvDs, Regie, Kamera, Redaktion, Maske, Assistenz, Moderation, Grafik. Ok, nicht alle haben Ping-Pong gespielt, aber die Stimmung war zwei Wochen lang total entspannt, extrem kooperativ und immer fröhlich.
Danke euch allen für diese interessante & intensive Zeit, ihr seid fantastische Kolleginnen & Kollegen !!!

Seltsamste Erkenntnis: Die Tage hier waren ziemlich lang und wirklich anstrengend – und trotzdem sind die beiden Wochen unfassbar schnell vergangen. Gefühlt ist es keine drei Tage her, dass der Portier an der Einfahrt zum ORF-Zentrum zu mir gesagt hat: „Wir sehen uns in 14 Tagen!“

Trotzdem freue ich mich sehr auf zuhause, auf meine Frau und meine Familie, auf ein ordentliches Bett, ein eigenes Bad und einen Tag ohne Skype-Konferenz, 350 Emails und ohne Pressekonferenz der Regierung (also, die Regierung wird schon welche halten, aber ich werde mal ein paar Tage schwänzen).

Schild "Sie verlassen die Sperrzone"

Noch heute Abend wird Martin Thür in die Sperrzone einziehen und die nächsten zwei Wochen von hier aus die ZiB2 moderieren. Sollte die „Isolation“ dann noch andauern, löse ich ihn wieder ab. Mal sehen, ob das Bett in meinem Büro dann noch da ist.


NACHLESE:
In der Corona-WG: Tag 8
In der Corona-WG: Tag 5
In der Corona-WG: Tag 1